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DIALEKTIK- GELASSEN LEBT, WER DEN WIDERSPRUCH SUCHT

Aktualisiert: 22. Okt. 2021


Dialektik, der Widerstreit der Meinungen, klingt nach Anstrengung. Wer sie praktiziert, wer sich angewöhnt, immer auch gegenläufige Positionen zu betrachten, geht allerdings eher gelassen durchs Leben. Ist es das Wert?


Ein innerer Konflikt ist ein Widerspruch zwischen verschiedenen Überzeugungen einer Person: Wenn jemand zwar großzügig sein, aber nicht den Preis dafür zahlen möchte. Oder wenn sich eine Person scheiden lassen will, ihr Glaube dies aber nicht zulässt. Und immer dann, wenn man mit Tatsachen oder Argumenten konfrontiert wird, die man nicht so leicht widerlegen kann, die sich aber nicht gut mit der eigenen Meinung vertragen, sind wir mit uns im Widerspruch. Niemand mag das. Schließlich gehören Autonomie und Kontrolle zu den menschlichen Grundbedürfnissen*. Und weil im Widerspruch logisch alles möglich ist, muss man sich zu ihm irgendwie verhalten, um in der Sache entscheidungs- und handlungsfähig zu bleiben und nicht ins Grübeln zu verfallen. Geht es dabei um unser Selbstbild, so stehen gar Identität, Selbstkonzeptklarheit** und damit auch unser Wohlbefinden auf dem Spiel.


Eine Option im Umgang mit Widersprüchen, eher eine Vermeidungsstrategie, besteht darin, das Thema, um das es geht, auszublenden: Weiß nicht, keine Ahnung. Für Irrelevantes funktioniert das gut und es schont Energie. Aber wer zu Fragen, die das Leben relevant betreffen, keine Position bezieht, überlässt das Gestalten anderen. Dieser Weg scheint leicht und bequem, doch weder fördert er ein selbstbestimmtes Leben, noch den eigenen Selbstwert, nach dessen Erhöhung wir ebenfalls streben.

Eine für den Selbstwert günstigere Taktik verfolgt, wer nicht gleich das Thema, sondern nur die zur eigenen Meinung gegenläufigen Positionen ausblendet. In gewissem Maß und zum Teil unbewusst tun wir das alle. Selektive Wahrnehmung und ein leicht verzerrtes, subjektives Denken sind menschlich. Und selten sind wir so gut über die Gründe der anderen informiert wie über unsere eigenen. Aber Vorsicht: Bei extremer Anwendung dieser Praxis kann es zu Nebenwirkungen kommen:

Je strikter das Bedürfnis ist, bei seiner Meinung zu bleiben und je zahlreicher die Themen, für die dies gelten soll, desto mehr Informationen, Sichtweisen und Argumente müssen außen vor bleiben. Weil es bei diesem Vorgehen Energie schont, Gesprächspartner, -partnerinnen und Medien von vornherein nach ihren Positionen auszuwählen, wird die eigene Welt leider kleiner. Außerdem muss, wer sein Denken zum Schutz vor äußeren Einflüssen vakuumiert, stets befürchten, die Blase könnte platzen. Was einem Senkrechtsturz des Selbstwertes gleichkäme, denn alles, woran man fest glauben wollte, würde sich im Handumdrehen verflüchtigen. Und das kann schon mal passieren, wenn der emotionale Druck steigt, weil im Nahumfeld immer wieder jemand mit spitzen Fragen kommt - zum Beispiel die aufgeweckten eigenen Kinder.


Frei von Nachteilen ist auch die dritte Option nicht. Sie lautet: Sein Denken immer wieder mal am Prüfstein anderer Sichtweisen und Argumente zu schärfen. Dazu muss man sich nicht ständig mit allem und jedem auseinandersetzen. Vielmehr heißt es, offen zu sein für Aspekte, die die eigene Sicht herausfordern oder ergänzen, auch wenn das bedeutet, dass sich der eigene Standpunkt vielleicht verändert. Bei dieser Option ist die eigene Blase vergleichsweise groß und durchlässig. Die Kontroverse mit Inhalten und Leuten, die - nach Möglichkeit mit interessanten und plausiblen Überlegungen - zu anderen Ergebnissen kommen, wird begrüßt.

Auch diese Option hat ihren Preis: Sie ist eher aufwändig. Und man ist ständig gezwungen, seine Sicht zu relativieren. Ob sich der Einsatz lohnt, bleibt zu entscheiden. Was man im Hinblick auf das Wohlbefinden aber bereits sagen kann: Gelassener lebt, wer ohne Angst vorm freien Fall einen unzensierten Kommentar lesen, die Nachrichten sehen und Leute einladen kann. Vielleicht ging Sokrates deshalb auf den Marktplatz von Athen und forderte seine Schüler zum öffentlichen Dialog, zu Rede und Widerrede, heraus.




*Nach Grawe heißen die menschlichen Grundbedürfnisse: Bindung und Zugehörigkeit, Orientierung und Kontrolle, Lustgewinnung und Unlustvermeidung, Selbstwerterhöhung und -schutz. https://www.klaus-grawe-institut.ch/blog/1205/

** Unter Selbstkonzeptklarheit wird der Grad verstanden, in dem die Inhalte eines Selbstkonzeptes klar und sicher bestimmt, miteinander konsistent und zeitlich stabil sind (vgl. Campbell et al. 1996, 141). Selbstkonzeptklarheit korreliert hoch mit psychischer Gesundheit (vgl. Petersen 2019, 17ff.)


Campbell, Jennifer (1990): Self-esteem and clarity of the self-concept. In: Journal of Personality and Social Psychology 1990, Vol. 59 (3), S. 538-549.

Campbell, Jennifer D./Trapnell, Paul D./Heine, Steven J./Katz, Ilana M./Lavallee, Loraine F./Lehman, Darrin R. (1996): Self-Concept Clarity: Measurement, Personality Correlates, and Cultural Boundaries. Journal of Personality and Social Psychology Vol. 70, No. 1, 141- 156.

Campbell, Jennifer D./Assanand, Sunaina/Di Paula, Adam (2003): The Structure of the Self‐ Concept and its Relation to Psychological Adjustment. In: Journal of Personality 2003, Vol. 71, Issue 1: https://doi.org/10.1111/1467-6494.t01-1-00002. Abruf 07.07.2019.

Grawe, Klaus (2004): Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe.

Ispaylar, Aylin (2016): Selbstreflexion. In: Frey, D. (Hrsg.): Psychologie der Werte. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag, S. 178-186.

Keupp, Heiner & andere (Hrsg.): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Rowohlt, Reinbek 2002, ISBN 3-499-55634-0.

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